Corona & die Gasse

Warum ich trotzdem auf die Gasse gehe…
Corona ist ernst. Kein Zweifel. Ich bin dankbar für die Fürsorge und Empfehlungen des BAG und auch für den Mut, dem Volk eine gewisse Eigenverantwortung zuzumuten und nicht einfach eine rigorose Ausgangssperre zu verhängen wie andernorts. Ich reduziere also im Privatleben Kontakte und unnötige Ausflüge, halte Abstand, wenn ich unterwegs bin und wasche meine Hände etwa so lang, wie ich zweimal Happy Birthday singe – und das öfter und bewusster als je zuvor. Meinem Team an Freiwilligen hab ich frei gegeben, dennoch bin ich weiterhin auf der Gasse präsent und das hat seine Gründe.

Wir alle sind verunsichert in diesen Tagen. Wie gefährlich ist das nun? Wie kann man sich schützen? Was sind Symptome und wie grenzen wir die von einer um diese Jahreszeit auch nicht unüblichen Erkältung oder Grippe ab? Diese Fragen stellen sich auch die Menschen auf der Gasse und oft kommen noch andere hinzu durch Vorerkrankungen, fehlendes Obdach, erhöhten Beschaffungsstress in Ermangelung von Einnahmen beim Betteln, weil ja weniger Menschen auf der Strasse und sowieso alle auf Distanz sind…
Insbesondere in den ersten paar Tagen war die Spannung regelrecht greifbar – und selten hab ich so oft den Satz gehört: „Wie schön, dass du (trotzdem) da bist!“. Ich hab versucht, mit Menschen zusammen Antworten und Hoffnung zu finden, hab zu Vorsicht ermahnt, Verschwörungstheorien in Frage gestellt und oft auch einfach nur zugehört, wenn sie mir erzählt haben, was sie in diesen Tagen bewegt. Denn unter unserem Klientel hat es eine ganze Reihe Menschen, die sonst einfach niemanden haben, um in diesen Tagen mal Dampf abzulassen und sich einfach auf andere Gedanken bringen zu lassen. Einige Menschen haben kein Natel und auch sonst keine Möglichkeiten, die unendlichen Möglichkeiten der sozialen Medien zu nutzen. Den meisten fehlen schlichtweg die Ressourcen und Ideen, um in diesem Ausnahmezustand einen Plan B zu fahren. Da hinein wirke ich, wenn ich auch in diesen Tagen wie gewohnt auf der Gasse stehe. Natürlich mit Vorsichtsmassnahmen, Mundschutz und Desinfektionsmittel sind montiert, aber besser noch mit einem Abstand von zwei Metern. Manchmal lande ich auch dieser Tage in prekären Situationen. Wie will man Anteil nehmen am Tod eines geliebten Menschen, wenn man dem trauernden Gegenüber nicht mal die Hand auf die Schulter legen, geschweige denn, sie umarmen darf? Wie bringt man jemandem, der gerade erst aus dem Gefängnis entlassen wurde und ein grosses Bedürfnis nach Nähe und Austausch hat, bei, dass die Welt gerade im Ausnahmezustand und auf Distanz ist? Haben Sie auch schon bemerkt, wie schwer es ist, sich einer unbekannten Person vorzustellen, ohne dabei die Hand zu schütteln?
Wir sind alle herausgefordert in diesen Tagen mit diesem Schreckgespenst Corona – manche mehr, andere weniger. Aber darin allein zu sein, das wollen und sollen wir alle nicht.